Das Jahrhundert der Katastrophen
Die Menschen in Belarus mussten im 20. Jahrhundert unbeschreibliches Leid ertragen, Katastrophen historischen Ausmaßes prägten und prägen das Leben und Bewusstsein von Generationen.
Denkmal in Khatyn für die von den deutschen Besatzern verbrannten Dörfer. Quelle: Wikimedia
1937-1941. Kurapaty
Wenn es in Belarus ein Sinnbild für die stalinistischen Verbrechen gibt, dann sind es die Kreuze in Kurapaty, einem Waldstück in der Nähe von Minsk, bei dem Tausende unschuldiger Menschen Ende der 1930er – Anfang der 1940er erschossen und in der Erde verscharrt wurden.
Das erste Kreuz wurde Ende der 1980er Jahre von zivilgesellschaftlichen Aktivisten aufgestellt, die das Schweigen des Zentralstaates durchbrechen wollten. Dadurch ist Kurapaty auch zu einem Sinnbild der belarusischen Unabhängigkeitsbewegung geworden.
Doch auch 30 Jahre nach der Unabhängigkeit ist die stalinistische Vergangenheit in Belarus nicht gebührend aufgearbeitet. Die Verbrechen, die am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges in Kurapaty geschahen, sind immer noch eine offene Wunde in der belarusischen Erinnerung.
1941-1945. Deutsche Besatzung und Holocaust
Kaum ein anderes Land hatte wiederum unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg so sehr gelitten wie Belarus. Das Land, dessen Einwohnerzahl nach der Annexion Ostpolens auf rund 10,6 Mio. angewachsen war, hatte am Ende des Krieges bis zu 1,7 Mio. Tote zu beklagen. Weitere 386.000 wurden als sogenannte „Ostarbeiter“ nach Deutschland verschleppt.
Besonders schutzlos waren die belarusischen Juden der deutschen Vernichtungspolitik ausgesetzt. Der Holocaust in Belarus hatte bei Weitem nicht den viel beschriebenen industriellen, entpersonalisierten Charakter wie in den großen KZs auf polnischem Territorium. Weiter im Osten erfolgte die massenweise Vernichtung der Juden größtenteils ungeordnet, von Angesicht zu Angesicht. Unzählige Erschießungsplätze und Massengräber prägen die Landschaft der Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung. Massenweise getötet wurde auch durch Hunger und Kälte in den zahlreichen Ghettos und Lagern des Landes. Mehr als 500.000 Juden verloren ihr Leben.
Nach wie vor kaum erforscht ist das Schicksal der sowjetischen Soldaten, die auf dem belarusischen Gebiet in die deutsche Gefangenschaft gerieten. Oft wurden sie im offenen Gelände, ohne Nahrung und medizinische Versorgung sich selbst und dem Tod überlassen. Nach Schätzungen wurden in Belarus rund 700.000 Kriegsgefangene getötet.
Das schwere Trauma der Kriegsjahre bildet heute einen großen Teil der belarusischen kollektiven Identität. Noch heute haben viele Einwohner des Landes das Gefühl, in einer Nachkriegsgesellschaft zu leben, und bezeichnen ihre Republik als „partisanka“ (Partisanin), ein Verweis auf die leidvolle Erfahrung der deutschen Okkupation.
1986. Tschernobyl
Ein weiterer Schicksalsschlag ereilte das Land 1986, als in der benachbarten Ukraine das Kernkraftwerk in Tschernobyl explodierte. Durch den radioaktiven Fallout wurde rund ein Viertel des belarusischen Territoriums kontaminiert. 140.000 Menschen mussten zwangsumgesiedelt werden. Noch heute leben rund 1,3 Mio. Menschen in Gebieten, die als belastet gelten.
Als Reaktion auf die Tschernobyl-Katastrophe formierte sich im Westen eine starke Solidaritätsbewegung. Seit 1990 wurden allein aus Belarus mehr als 800.000 Kinder zu mehrwöchigen Gesundungs-aufenthalten nach Europa, USA, Kanada und Japan eingeladen. Allein in Deutschland waren es über 182.000 Kinder im Zeitraum von 1990 – 2009.
Während Belarus sich politisch zunehmend isolierte, knüpften aktive Menschen auf diese Weise direkte Kontakte und Freundschaften über die Grenzen hinweg und setzten sich füreinander ein. Zwischen zahlreichen Familien in Ost und West bestehen diese Freundschaften nach wie vor.