Marianne Birthler solidarisch mit Maria Kalesnikava

Marianne Birthler solidarisch mit Maria Kalesnikava

Beitrag vom 12. Juni 2023

Marianne Birthler, langjährige Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde und DDR-Bürgerrechtlerin, war am vergangenen Donnerstag zu Gast bei der wöchentlich Andacht für Belarus in der Berliner Gethsemanekirche – und hielt eine bewegende Rede über Maria Kalesnikava, die bereits seit über 1.000 Tagen unschuldig in Haft sitzt:

Das strahlende Gesicht der 40-jährigen Künstlerin und Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava ihre zu einem Herzen geformten Hände kennen viele. Es hat sich uns eingeprägt im Sommer 2020, als wir fast täglich in den Nachrichten die Bilder der Demonstrationen in Minsk verfolgten. Weiß gekleidete Frauen, selbstbewusst und mutig. Ein paar Wochen lang konnten sie darauf vertrauen, dass ihre Strategie aufging, Die Machthaber würden es nicht wagen, vor den Augen der Welt mit Gewalt gegen wehrlose Frauen vorzugehen, sie zu verprügeln oder zu verhaften. Die Frauen hatten allen Grund zu demonstrieren gegen gefälschte Wahlen, gegen ein undemokratisches politisches System. Für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Und wir konnten das Strahlende in den Augen sehen, das Menschen so oft haben, die ihre Angst überwunden haben und gemeinsam trotz aller Gefahr lachend und tanzend für ihre Freiheit kämpften. Dieses Strahlen der Hoffnung und der Zuversicht. Wir kennen das auch von anderen Aufständen und Demonstrationen. Die Bilder der 89er Revolution zeugen davon. Vom Maidan, aber auch von den Arbeitern, die 1953 von Hennigsdorf kommend durch das Brandenburger Tor zogen. Auf einem Foto, das zur Ikone geworden ist. Drei Frauen hatten Alexander Lukaschenko im Wahlkampf herausgefordert: Svetlana Tsikhanouskaya, Veranika Tsepkala und Maria. Sie waren so erfolgreich und populär, dass dem Präsidenten nur eine Wahlfälschung geblieben war, um an der Macht zu bleiben.

Die Menschen in Belarus, die mit jahrzehntelanger Verspätung auf ihr 1989 gehofft hatten, begehrten auf. Das System schlug zurück, ging mit Gewalt und Verhaftungen gegen die Demonstrant:innen vor. Viele verließen das Land. Maria blieb und verkündete Anfang September zusammen mit Freunden die Gründung einer neuen Partei: Razam, „gemeinsam“. Kurz darauf verschwand sie. Wenig später war klar, dass sie verhaftet und wahrscheinlich misshandelt worden war. Ein Jahr später erfolgte das Urteil: elf Jahre für Maria. Zehn Jahre für ihren Mitangeklagten Maxim Znak. Seitdem 1.000 Tage Haft. Maria wurde sehr krank, musste notoperiert werden. Die medizinische Versorgung war unzureichend und ist es vermutlich bis heute.

Hinzu kamen immer wieder Episoden verschärfter Einzelhaft. Mitte Februar erhielt ihre Familie die bisher letzte Nachricht von Maria: „Ihr seid alle in meinem Herzen“, schrieb sie. „Ich vermisse euch sehr“. Wir wissen nicht, wie es hier heute gerade geht. Wir haben Angst um sie, erst recht angesichts ihres gesundheitlichen Zustands. Und wie mag es um ihre Seele bestellt sein? Sie ist stark, aber auch Stärke hat ihre Grenzen. Maria Kalesnikava wäre es nicht recht, wenn es heute nur um sie ginge. Sie würde uns auffordern, auch all jener zu gedenken, die ebenfalls im Gefängnis und in Strafkolonien festgehalten werden. Viktor Barbariko, Sergej Tsikhanouski, Mikalai Statkevich, Maxim Znak, Ihar Losik. Von all ihnen ist ebenfalls seit längerer Zeit keine Nachricht angekommen. Und sie sind nur einige von derzeit geschätzten 1.500 politischen Gefangenen.

An sie alle denken wir heute, auch weil Maria dies von uns erwarten wird. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass wir selber nicht die Kraft der Solidarität verlieren, und dass insbesondere die Angehörigen der Gefangenen ihre Hoffnung nicht verlieren. Das tun wir, indem wir gemeinsam an sie alle denken, für sie beten und versuchen, etwas von unserer Kraft an sie zu senden. Mir persönlich hilft es manchmal, dass ich an die Zukunft denke, an Maria, die eines Tages wieder musizieren wird und hin und wieder Schulen besucht, um Kindern und Jugendlichen von diesen schweren Jahren, vor allem aber von ihrer Sehnsucht nach Freiheit zu erzählen.

Ich stelle mir vor, was über sie und ihre Mitstreiter:innen in den Schulbüchern stehen wird, während ihre Peiniger längst vergessen sind, nachdem sie ihre gerechte Strafe bekommen haben. Und so wie uns heute diejenigen Kraft geben, die lange vor uns für Freiheit und Gerechtigkeit einstanden oder sogar ihr Leben dafür gegeben haben, dass wir heute so leben können, wie wir leben dürfen, wird auch das Beispiel von Maria Kalesnikava und all ihren Mitgefangenen eines Tages zum Mut und zur Festigkeit derer beitragen, die in den kommenden Generationen ihre neuen und ihre eigenen Kämpfe zu kämpfen haben.

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